Einst Zankapfel, derweil ehrwürdiges sowie kostbares Instrument
Der Blick des Besuchers, der zum ersten Mal die Glandorfer Kirche durch das Hauptportal betritt, wird sogleich auf den Hochaltar gelenkt, der den hinteren Kirchenraum dominiert. Doch hat der interessierte Gast die Kirche durchquert und sich an den Stufen des Altars umgewendet, konzentriert sich der Focus auf die mächtige Doppelempore, die gekrönt wird von der Kirchenorgel. Das Instrument mag vor allem akustisch ein respektvolles Aufhorchen erregen, aber seine Geschichte ist ebenfalls einige Aufmerksamkeit wert.
Schon die Kirche, die um 1270 errichtet wurde, hatte eine Orgel.
Sie wurde laut den Angaben im „Winbuch“ (Ausgaben- u. Einnahmenverzeichnis) aus der damaligen Zeit im Jahre 1529 eingebaut. Es ist anzunehmen, dass sie 1566 in den Neubau der Kirche übernommen worden ist und während des Dreißigjährigen Krieges, am 6. Mai 1636, mit der Kirche ein Raub der Flammen wurde.
1659 bekam die nach dem Brand wieder errichtete Kirche eine neue Orgel. Knechte und Mägde hatten dafür in der Gemeinde über 200 Reichstaler gesammelt. Die Gesamtkosten der Orgel betrugen über 300 Reichstaler. Schreinermeister Heinrich Duppen und ein Orgelmacher Jung werden als Erbauer der Orgel genannt. „Monsieur“ Clamor Abel, fürstlicher Osnabrücker Hofmusikus, und Pater Sixtus, ein Dominikanerpater aus Osnabrück, waren damals als Gutachter tätig. Die Orgel stand damals nicht hinten in der Kirche, sondern rechts im Chorraum, vermutlich etwas erhöht, denn der Zugang zu ihr erfolgte über eine Treppe, die von der Sakristei aus zur Orgel führte.
Als um 1820 die Kirche erweitert wurde, wollte Kaplan Horstmannn das Instrument an diesem Platz behalten, aber es setzten sich diejenigen Kreise durch, die dafür eingetreten waren, die neue Orgel auf der neueingebrachten zweiten Empore unterzubringen. Ihr Bau wurde 1827 durch den Orgelbauer Kersting für rund 1600 Taler begonnen. Das wird auch belegt durch seinen Stempel, der sich in einer Pfeife des Bordun (Orgelregister) befindet. Ebenfalls ist der Neubau in den Auftragsbüchern der traditionsreichen Orgelbauerfamilie verzeichnet.
Doch diese Aufzeichnungen sind nicht die einzigen, die den komplexen Sachverhalt um die Neuanschaffung der Kirchenorgel beschreiben.
Die Orgelbaufirma Vorenweg-Kersting war zwischen 1784 und 1879 in Münster ansässig, arbeitete in der handwerklichen Tradition der rheinischen Orgelbauwerkstatt König, mit durchaus eigener Ausprägung, und gehörte zu den herausragenden Werkstätten ihrer Zeit. Johann Kersting (1784–1854) war der Neffe des Werkstattgründers Melchior Vorenweg (1753–1844), der seit etwa 1814 gemeinsam mit seinem Onkel die Werkstatt führte. Aus der Schule von Vorenweg-Kersting gingen im 19. Jahrhundert mehrere bedeutende Orgelbauer als Schüler hervor, die auch außerhalb von Westfalen Bedeutung erlangten.
Das Orgelbauprojekt in Glandorf allerdings ist eines der dokumentarisch umfangreichsten Vorgänge innerhalb der langjährigen Bautätigkeit der münsterschen Orgelbauerfamilie. Der Domkapellmeisters Prof. Anthony aus Münster und Kersting besichtigten bereits im Jahr 1824 die Glandorfer Kirche und der Kirchenvorstand seinerseits holte Auskünfte über die finanzielle Situation des Unternehmens ein.
Am 22.01.1828 wurde ein Vertragswerk akzeptiert, das von Prof. Anthony ausgearbeitet wurde und Kersting mit dem Bau der Orgel nach seiner Vorlage beauftragte. Der Vertrag beschreibt im Detail, welche Pflichten den Vertragsunterzeichnern zukamen. Die Gemeinde hatte Handlanger- u. Fuhrdienste sowie statische Vorgaben bzgl. der Empore zu erfüllen. Da Kersting als „bemittelter Mann“ angesehen wurde, sollte die Auszahlung des vereinbarten Betrages erst nach der „Approbation“ erfolgen. Ebenso wurde er verpflichtet, über 10 Jahre die Haltbarkeit der Orgel zu sichern.
Darüber hinaus fiel die Wahl des Schreiners, der das Gehäuse nach Angabe des Orgelbauers bauen sollte, dem Kirchenvorstand zu. Tischlermeister Erpenbeck aus Glandorf wurde für 175 Rtl. mit dieser Aufgabe betraut.
Allerdings basiert die begleitende Korrespondenz zwischen der Vogtei Glandorf und dem „Königlich Großbritannischen Hannöverschen Amt Iburg“ auf dem Präzedenzfall, den man bei der Verpflichtung eines preußischen Orgelbauers zu einem hannöverschen Bauprojekt unbewusst geschaffen hatte.
Dieser Musterfall wurde von amtlicher Seite mit Akribie überwacht.
Deshalb riet die Landdrostei zu Osnabrück dem Glandorfer Vogt Gerlinck, den Vertrag dem Sachverständigen u. Organisten Veltmann vorzulegen. Da sich jener als Disponent und Gutachter des hannöverschen Bezirks übergangen fühlte, ließ er kein gutes Haar an der Ausarbeitung seines münsterschen Kollegen.
Der nun entbrannte Gutachterstreit gipfelte in fachspezifischen Feinheiten und amtlichen Querelen, die zu einem Nachtrag zum bestehenden Vertag führten. Die darin enthaltenen, zum Teil übermäßigen Forderungen veranlassten Johann Kersting zu der Aussage, bei weiterer Beharrlichkeit der Glandorfer Gemeinde auf jene Bestimmungen, vom bereits abgeschlossenen Vertrag zurückzutreten. Doch das Amt Iburg, besorgt um die Weiterführung des Orgelbaus, schlug schlussendlich eine Einigung vor, die zur Fertigstellung der Orgel am 30. Juli 1829 führte. Veltmann indes lobte später den Baufortschritt und veranstaltete, da ihm eine Wiedergutmachung scheinbar am Herzen lag, am 17.08.1829 ein Konzert auf der hiesigen Orgel.
Dem damaligen Besucher dieser Musikaufführung zeigte sich ein Instrument, das im Geiste seiner Zeit erbaut, ein ansehnliches Beispiel für den Klassizismus darstellt.
In den darauf folgenden Jahren verrichtete die Neuanschaffung zuverlässig ihren Dienst, doch diese Zeit hinterließ ihre Spuren.
Eine offensichtlich größere Renovierung und Erweiterung der Orgel erfolgte im Jahr 1906 durch die Orgelbaufirma Rudolf Haupt aus Osnabrück. Damals sind offensichtlich auch die Prospektpfeifen durch Holzattrappen ersetzt worden und die Register wurden um 4 auf 23 erweitert. Am 17.4.1907 kam der damalige Domorganist Conrad Bäumer nach Glandorf, um die erneuerte Orgel zu begutachten.
Anfang der 1920er Jahre ärgerte sich Pastor Köster über „die zwei finsteren Störungsecken an der Nord- und Südseite der obersten Bühne“. Um mehr Licht nach oben zu bringen, ließ er das Ovalfenster vergrößern und die Orgel, die bis dahin in der Mitte gestanden hatte, in zwei Hälften teilen. Die damit verbundenen Orgelumbau- und Änderungsarbeiten wurden von der Fa. Fleiter aus Münster durchgeführt. Das bezeugt auch eine Bleistiftnotiz, die der Intonateur dieser Firma, Herr Johann Bärling, 1926 im Innern hinterließ. 1927 wurde das kunstvolle Fenster „Jakobs Traum von der Himmelsleiter“ eingebaut, um dem Wunsch nach mehr Licht nachzukommen.
Im Jahre 1959 hat die Orgelbaufirma Kreienbrink aus Osnabrück die Orgel elektrifiziert, d. h. die Ventile wurden nunmehr auf elektrischem Weg geöffnet. Der neue Spieltisch und die durchgeführten Arbeiten verursachten Kosten in Höhe von ehemals 13000 DM.
Eine weitere Renovierung stand 1980 an, denn schon seit Jahren klagten die Organisten über den schlechten Zustand der Orgel. Die Register des 2. Manuals waren fast alle ausgefallen und immer häufiger mussten Orgelbauer kommen, um das Instrument wenigstens notdürftig bespielbar zu erhalten. (u. a.: 1965 – Restaurierung der historischen Pfeifen)
Darum beschloss der damalige Kirchenvorstand eine gründliche Renovierung der Orgel. Mit Zustimmung des bischöflichen Generalvikariats Osnabrück wurde damit die Orgelbaufirma Speith aus Rietberg beauftragt. Das Gehäuse blieb wie es war, nur nach Behandlung der Holzteile gegen Schädlinge wurde es farblich neu gestaltet. Außerdem wurden die Holzattrappen wieder durch klingende Pfeifen ersetzt. Im Inneren der Orgel wurden die Laden (auf diesen sind die Pfeifen angeordnet) erneuert und anders platziert. Dadurch entstand eine bessere Klangausbreitung in der Kirche. Das alte Pfeifenwerk wurde überholt und teilweise erneuert. Das Bordunregister mit dem Stempel von 1827 wurde, wie andere historische Register auch, repariert und wieder eingesetzt. Die renovierte Orgel bestand nun aus 3 Werken und verteilt auf 2 Manuale und Pedal erklangen 23 Register. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich 1449 Pfeifen in der Orgel, davon 138 aus Holz. Die handpolierten Prospektpfeifen bestehen auch heute noch aus 75% Zinn und 25% Blei.
Die Renovierung der Orgel kostete ca. 125000 DM, wobei außer den Orgelbauern auch Maler, Tischler und viele freiwillige Helfer aus der Gemeinde tätig waren.
1996 wurde die Orgel umfassend restauriert und technisch neu erbaut.
Die Fa. Kreienbrink realisierte den notwendigen, technischen Neubau der Orgel. Die Planung und Durchführung des gesamten Projektes wurden vom Orgelsachverständigen Herrn Pfr. Prof. Rahe und Stefan Peters geleitet.
In Anlehnung an den Ursprungszustand wurde die Orgel wieder seitspielig gebaut. Die beiden Gehäuse blieben allerdings weiterhin getrennt aufgestellt. Im Rahmen der Renovierung der Kirche 1992–1997 waren auch Planungen unternommen worden, die Orgelbühne zu entfernen, um die Orgel auf der ersten Empore zu platzieren. Hierbei wären dann beide Gehäuseteile wieder wie im Original aufgebaut worden. Man entschied sich aber für die derzeitige Lösung, was insbesondere der Kirchenmusik und Chören sehr zugute kommt. Die Akustik im Kirchenraum ist als besonders gut einzustufen. Mit nur wenig Kraft kann eine deutliche Artikulierung im gesamten Kirchenraum erzielt werden. Auch das spricht für die gegenwärtige Aufstellung der Orgel.
Das System wurde von Kegellade auf Schleiflade umgestellt. Bedingt durch die Orientierung an den historischen Orgelbau wurde das Gehäuse als tragende Einheit konzipiert.
Insgesamt beherbergt die Orgel heute 1580 Pfeifen
Die längste Pfeife (Register Violon 16’) hat eine klingende Länge von ca. 5 m. Die kleinste Pfeife misst nur eine klingende Länge von ca. 1 cm und befindet sich im „Scharff 3-fach“. Als Register bezeichnet man eine Pfeifenreihe gemäß Tastenumfang-Manual / -Pedal.
Die alte „Fuß“-Maßeinheit hat sich über Jahrzehnte durchgesetzt, da hierbei die Bezeichnung der Längen mit nur einer Zahl angegeben werden muss. Ein „Fuß“ misst etwa 30 cm. Je höher bzw. größer die Zahl wird, umso tiefer klingen die Pfeifen. Auch Teiltöne wie Quinten sind somit für den Organisten/in schnell erkennbar.
Unterteilt werden die Register in Prinzipalchöre oder Weitchöre.
- Prinzipale sind z. B. Prinzipal 8 / Oktave 4’ Mixtur usw. Diese Register sind stärker in ihrer Kraft und werden vor allem während des Gottesdienstes für die Liedbegleitung genutzt.
- Weitchöre sind z. B. Flöte 8’ Rohrflöte 4’ / Gambe und Schwebung Gedackt 8’ Nachthorn 2’. Diese Register sind weicher und leiser und dienen z. B. als Soloregister beim Liedvorspiel.
Da die Organisten nicht nur mit den Händen, sondern auch den Füßen spielen, benötigen sie einige Spielhilfen. Die hierbei wesentlichste Spielhilfe ist die kleine 64-fache Setzeranlage, die das Aktivieren einer vorher festgelegte Registrierung ermöglicht. Somit ist ein schnelles Umstellen der verschiedenen Register einfach möglich.
Zuletzt zu nennen wäre noch das Schwellwerk der Orgel, wodurch ein ganzes Werk mit senkrecht bewegbaren Klappen leiser und lauter gemacht werden kann.
Von dem Ursprungs-Instrument sind noch 8 Register original erhalten (einschließlich der alten Pfeifen von 1829), weitere 5 Register stammen aus dem Jahre 1906.
Das ehrwürdige Schleifladen-Instrument hat heute insgesamt 26 Register auf zwei Manualen und Pedal, wobei die Spieltrakturen mechanisch und die Registertrakturen elektrisch sind.
Die im letzten Absatz aufgeführte, fachspezifische Darstellung der Glandorfer Orgel stammt in seinen wesentlichen Teilen von Herrn Stefan Peters. Der gelernte Tischler und Orgelbauer betreut seit nun mehr 15 Jahren kostenfrei die Orgel, indem er die notwendigen Wartungs- und Reparaturarbeiten übernimmt. Ein bemerkenswertes Engagement für den Erhalt eines wichtigen Glandorfer Kulturgutes.
Für Kultour-Gut! Glandorf
Frank Niermann
Quellen:
- Pfr. J. Underbrink, Die Orgel in der St. Johannis-Kirche Glandorf, Festschrift 1980
- http://www.heimatverein-suedlohn.de/media/ueber_suedlohn/kirchenschaetze/orgelanhang.pdf
- W. Kalipp: Die westfälische Orgelbauerfamilie Vorenweg-Kersting, Bärenreiter, Kassel, 1984
- Klavier- u. Orgelmanufaktur Stefan Peters, Glandorf, 2013